Immer wieder machen in Österreich Fälle von schweren Kindesmisshandlungen im engsten Familienkreis Schlagzeilen. 2014 ging etwa das Schicksal der kleinen Leonie durch die Medien, die nach einer „Strafdusche“ mit heißem Wasser verstarb.
„Diese öffentlich gemachten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs“, ist Prim. Dr. Wolfgang Wladika, Vorstand der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters (NPKJ) am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee betroffen. „Allein in den letzten zwei Jahren hatten wir am Klinikum sechs schwere Säuglingsmisshandlungen, drei Babys tragen massive Folgeschäden davon und bleiben Pflegefälle.“ Wladika betont: „Vor allem im Säuglingsalter wirken sich Misshandlungen massiv aus. Es entstehen sehr häufig nachhaltige Schäden sowohl körperlicher als auch seelischer Natur.“
„Über Treppe gestürzt“
Betroffen von Misshandlungen sind aber auch ältere Kinder. „2014 mussten wir 15 Kinder nach körperlichen Attacken an meiner Abteilung behandeln, 2013 waren es 16 Patienten“, blickt auch Prim. Univ.-Doz. Dr. Günter Fasching, Vorstand der Kinder- und Jugendchirurgie am Eltern-Kind-Zentrum (ELKI) besorgt in die Statistik. Insgesamt sind ein bis zwei Prozent der stationären Aufnahmen in seiner Abteilung auf ein Gewaltdelikt zurückzuführen.
Bei der Diagnosestellung und der Unfallursachenforschung ist die Sensibilität der Mediziner gefragt, denn nicht immer sind Kindesmisshandlungen auf den ersten Blick ersichtlich. „Die Eltern erzählen uns, dass ihr Sohn oder die Tochter vom Bett gefallen oder die Treppe hinuntergestürzt ist. Passt das Verletzungsmuster mit diesen Schilderungen nicht zusammen, werden wir hellhörig“, erklärt Fasching.
Schläge aus Überforderung
Das höchste Ziel der Ärzte: Frühzeitige Hilfe für die Familie. Am besten schon in der Schwangerschaft und nach der Geburt. Fasching: „Das geschlagene Kind ist ein Symptom für eine kranke Familie. Man muss die Krankheit behandeln, nicht nur das Symptom.“ Aus diesem Grund haben Ärzte, Hebammen und Psychologen am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee reagiert. Auf Initiative von Prim. Wladika wurde ein Projekt ins Leben gerufen, das Kindern, vor allem aber deren überforderten Eltern oder Erziehungsberechtigten helfen soll. „Die meisten Übergriffe auf Kinder geschehen aus Überforderung heraus“, sagt Mag. Augustine Gasser, Psychologin an der NPKJ.
Tragischer Hintergrund: Viele der schlagenden Erwachsenen waren in ihrer Kindheit selbst Opfer von Gewalt. „In Überforderungssituationen mit dem eigenen Kind, werden die selbst erlebten Muster aktiviert. Kurz gesagt: Die Erwachsenen haben kein anderes Reaktionsmuster gelernt, außer Gewalt anzuwenden“, erklärt Gasser. Im vertraulichen Gespräch mit den Ärzten und der Psychologin geben dann auch viele Eltern zu, ihr Kind misshandelt zu haben. „Sie schämen sich dafür. Für ihre Überforderung. Und machen auch deutlich, dass sie das ihrem Kind niemals antun wollten“, erzählen Wladika, Fasching und Gasser aus der Praxis.
„Unser Ziel ist es in erster Linie die Eltern für ihre Tat nicht zu bestrafen, sondern ihnen Hilfe zu bieten, ihnen Mut zu machen, sie zu beraten und zu entlasten“, erklärt Wladika.
Prävention und Früherfassung
Um möglichst früh mit der Hilfe anzusetzen und Misshandlungen im Vorfeld zu verhindern, wurden auch die Hebammen eingebunden. Seit Oktober 2014 wird jeder werdenden Mutter im ELKI ein Fragebogen ausgeteilt, indem unter anderem die emotionale und soziale Situation erhoben wird. Erstellt wurde er von Psychologin Mag. Gasser. „Mit dieser Befragung wollen wir auch eine Verwahrlosung der Kinder sowie Fälle von psychischer Gewalt verhindern. Diese sind nämlich im Gegensatz zu körperlichen Verletzungen nicht sichtbar“, sagt Gasser, die betont, dass „Prävention und Früherfassung unbedingt gemacht werden müssen, um die Familien rechtzeitig unterstützen und begleiten zu können.“ Damit könnte späteres Leiden verhindert werden. Man weiß aber auch von vielen Untersuchungen, dass nicht alle Fälle von Kindesmisshandlungen damit verhindert werden können.
Neue Strategien und Konfliktlösungen
Besonders wichtig ist es ihr, Verständnis für die Erziehungsberechtigten zu haben. „Man muss verstehen, warum Misshandlungen passieren. Meistens aus Überforderung oder weil man zu wenig Empathie für das Kind entwickelte. Dann werden Grenzen schneller überschritten. Sind die Ursachen erhoben, gilt es gemeinsam mit den Eltern neue Strategien und Konfliktlösungen zu entwickeln, wie man mit einem Schreibaby oder einem trotzigen (Klein)-kind umgeht.“
Hausbesuche der Hebammen
Gasser und die leitende Hebamme am ELKI, Mag. Beate Lamprecht, suchen Gespräche mit den werdenden Müttern. „Zwischen fünf bis zehn Prozent der Schwangeren haben einen besonderen Unterstützungsbedarf in dieser Richtung“, erklärt Lamprecht. “Außerdem steht allen Frauen ein Hebammengespräch in der Schwangerschaft als Option im Mutter-Kind-Pass zu, erläutert sie „und Besuche durch die Hebamme und Krankenkassenkosten wenn die Frau das Spital nach der Geburt frühzeitig verlassen hat“, erklärt sie.
In der Wohnung können die Hebammen gemeinsam mit der Mutter überlegen, ob der Schlafplatz des Säuglings optimal gewählt ist, über eventuelle Schwierigkeiten besprechen und die Unterstützungsmöglichkeiten durchgehen. Das Ziel der Hebammen wäre es „für jedes Kind so einen Willkommensbesuch zuhause“ zu realisieren. Etwa durch einen Fixpunkt im Mutter-Kind-Pass. „Das wäre ein niederschwelliges Angebot für die jungen Mütter und Familien. Auch können die Hebammen durch einen Hausbesuch mehr Informationen über die Wohnverhältnisse und die sozialen Strukturen der Familien bekommen. Bei Problemen unterstützen wir die Frau konkret nach Fragestellung rasch, unkompliziert und können ihr etwa dabei helfen, ihren Alltag zu strukturieren. Denn ein Kind ist nun mal ein 24-Stunden-Job.“
Wladika, Fasching, Lamprecht und Gasser hoffen mit der Initiative am Klinikum Klagenfurt die Fälle von Kindesmisshandlungen zu reduzieren. „Dazu wäre aber auch die Unterstützung von außen notwendig, denn irgendwann stoßen auch wir an unsere Grenzen. Nur mit dieser Hilfe könnten wir das Projekt ausbauen und auch andere Krankenhäuser einbinden“, sagt Wladika.